Über viele Jahre habe ich mich mit dem Thema Stress befasst, in der Behandlung von Patienten, aber auch im Umgang mit mir selbst. Aufgrund meiner Erfahrung und wissenschaftlicher Studien bin ich auf Faktoren gekommen, die einfach verständlich sind und die man leicht anwenden kann, um seine Widerstandsfähigkeit zu stärken.
Im Folgenden beschreibe ich diese neun Resilienz-Faktoren. Sie beinhalten jeweils das Wort „richtig“. Damit ist Korrektheit, aber auch Ausgewogenheit und Balance gemeint. Die Faktoren sind keine Gebrauchsanweisung, sondern dienen als Anregungen zur kreativen, widerstandsfähigen und nachhaltigen Lebensgestaltung. „Weg“ meint hier nicht das Fortschreiten von Stufe zu Stufe. Alle Faktoren sind gleichwertig und sollten jederzeit beachtet werden.
1) Das richtige soziale Netzwerk
Soziale Unterstützung ist eine der wichtigsten Resilienz-Faktoren. Allerdings ist der Begriff «soziale Unterstützung», der in der Forschung verwendet wird, nicht ganz korrekt. So ist zum Beispiel sichtbare, offizielle Unterstützung durch den Staat viel weniger wirksam als unsichtbare, nicht abgesprochene Unterstützung durch Freunde, Bekannte und Nachbarn, die Sicherheit vermitteln. Der Begriff «soziale Integration» trifft die Sache besser.
Facebook, Twitter, LinkedIn – soziale Netzwerke werden immer grösser und kennen keine geographischen Grenzen. Ökonomen und Soziologen loben die unbegrenzten „weak ties“, also schwache Bindungen, die unkompliziert, schnell und digital über weite Distanzen möglich sind. Solche Beziehungen helfen uns, Informationen auszutauschen und Dinge mit Leuten zu besprechen, die wir im realen Leben kaum treffen würden. „Weak ties“ verbinden politische Gruppen, Firmen und Menschen mit einem bestimmten Hobby. Der Staat und Firmen sind daran, viele direkte Beziehungen zu digitalisieren und damit effizienter und kostengünstiger zu gestalten. Früher hat der Postbote das AHV-Geld den älteren Menschen direkt in die Hand bezahlt. Heute merkt man kaum, wenn eine solch wichtige Interaktion mit dem Staat stattfindet.
Ist die digitale soziale Integration wirksam gegen Stress? Die Resilienz-Forschung zeigt, dass diese schwachen, digitalen Beziehungen keine Stress-Puffer sind und die soziale Unterstützung nicht ersetzen. Selbst „strong ties“, also regelmässige und intensive Beziehungen, stärken die Resilienz nur dann, wenn ein direkter, lokaler Kontakt möglich ist. Bürokollegen, Nachbarn und Freunde, die in der Nähe wohnen, spielen dabei die entscheidende Rolle. Digitalisierung ersetzt direkten Kontakt oft mit mehr Kontrolle, zum Beispiel durch Einsicht in den persönlichen Kalender, was die Resilienz zusätzlich schwächt.
Die grosse Bedeutung des sozialen Netzwerks hat mit unserem Bindungsbedürfnis zu tun. Wird dieses über längere Zeit nicht befriedigt, entstehen körperliche und psychische Beschwerden. Unser Bindungsbedürfnis erschöpft sich aber auch relativ schnell. Nach ein paar Stunden Quartiervereinsfest haben wir meistens genug und widmen uns wieder persönlichen Interessen und der Selbstverwirklichung.
Digitale Beziehungen schaffen ein neues Problem: Aktivität in den sozialen Medien erschöpft das Beziehungsbedürfnis, ohne einen Beitrag zur lokalen sozialen Integration zu leisten. Deshalb sind Menschen, die viel Zeit mit sozialen Medien verbringen, schlecht gegen Stress gewappnet.
Die Energie, die wir in digitale Beziehungen investieren, fehlt für Investitionen in lokale, konkrete Beziehungen. Dies ist ein entscheidender Treiber der aktuellen Resilienz-Krise, denn Resilienz ist ein lokales Phänomen. Es lohnt sich also, in direkte Kontakte zu Menschen zu investieren, die in unserer Nähe leben, arbeiten und wohnen.
Tipp: Erhöhen Sie die Zeit, die Sie mit Menschen verbringen, welche in Ihrer Nähe wohnen, und mit welchen ein gegenseitiger Austausch möglich ist.
2) Der richtige Wettbewerb
„Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiss, welcher Art der andere ist.“ So lautet ein berühmtes lateinisches Sprichwort, das mit der Zunahme des gefühlten Stress viel zu tun hat. Es besteht kein Zweifel: Das Leben als Mensch unter bissigen Wölfen bedeutet Stress. Je weniger man sich gegenseitig kennt und versteht, je mehr soziale Unsicherheit besteht, desto stärker wird die Wolfsnatur des Menschen. Die Globalisierung fördert diese Tendenz. Zunehmende Wettbewerbsmöglichkeiten ist für viele eine grosse und willkommene Chance, ihrem Leben Bedeutung und Sinn zu geben, sonst würden nicht so viele Menschen aus China und Russland in die USA auswandern wollen. Für den gefühlten Stress in reichen Industrieländern ist es aber kein Vorteil.
Wettbewerb und Depression sind eng miteinander verknüpft. Gemäss der führenden evolutionären Theorie der Depression haben depressive Symptome wie Lustlosigkeit, Schuldgefühle und tiefes Selbstwertgefühl den Sinn, anderen mitzuteilen, dass man nicht mehr in Konkurrenz tritt, dass man das grosse Geld oder die hohe Stellung gar nicht mehr will und bereit ist, sich am unteren Ende einer Hierarchie einzufügen oder einen anderen Weg zu gehen.
Für den Einzelnen ist es klar besser, Hierarchie- und Leistungskonflikte auf eine Weise zu lösen, die nicht depressiv macht. Wettbewerb kann zu Höchstleistungen anspornen, aber nur, wenn er nicht übertrieben wird. Jeder braucht sein Team, indem Kooperation wichtiger ist als Kompetition. Sicherheit kann kompetitive Strukturen in kooperative Beziehungen umwandeln. Das Leben, privat und beruflich, ist meistens kein Tennis-Turnier, bei dem einer alles gewinnt. Vielmehr ist es das Teilen eines Kuchens, den wir gemeinsam vergrössern können.
Tipp: Wenn Sie sich gestresst fühlen, stellen Sie sich die Frage: Wer zieht am gleichen Strick? Wer sind meine Kooperationspartner? Wer steht mit mir in positiver Resonanz?
3) Der richtige Optimismus
Nonnen sind ideal, um psychologische Gesundheitsfaktoren zu untersuchen, weil sie sehr ähnliche Lebensbedingungen haben: keine Ehemänner, keine Kinder, keinen Alkohol, keinen Tabak, regelmässige Tätigkeiten und ein gutes soziales Unterstützungsnetz. In der berühmten Nonnen-Studie wurden Autobiographien untersucht, welche die Nonnen im Alter von 20-25 Jahren über sich selber schrieben. Nach einer Studiendauer von über 60 Jahren wurde klar: je mehr positive, sinnstiftende Gefühle die Autobiographie enthielt, je länger lebte die Nonne. Dieser Befund stimmt auch mit der modernen Stressforschung überein: Menschen, die trotz Belastung, Stress oder Trauma positive Gefühle erleben, überstehen die schwierige Situation viel besser als solche, die nur noch negative Gefühle wälzen. Die Welt negativ zu sehen, ist ein wichtiger Risikofaktor, depressiv zu werden. Psychotherapie und Antidepressiva können helfen, die Welt ins positive Licht zu rücken. Das ist nicht nur ein Nebeneffekt, sondern eine zentrale Wirkung, um Menschen aus Stresszuständen und Depressionen zu führen. Positive Gefühle sind zum Teil vererbt, zum Teil kann man sie aber auch trainieren, indem man sich bewusst an positive Dinge erinnert und sich mit positiven Dingen auseinandersetzt.
Positive Gefühle, Heiterkeit und Dankbarkeit sind zweifellos ein Segen. Optimismus meint aber noch etwas mehr, nämlich die Überzeugung, dass die Zukunft gut sein wird. Dieser Überzeugungsoptimismus ist allerdings nur dann hilfreich, wenn er realistisch ist. Das folgende Beispiel veranschaulicht diese wichtige Erkenntnis: die Amerikaner gehören zu den grössten Optimisten in Sachen Gesundheit, leben aber durchschnittlich sieben Jahre weniger lang als die Japaner, denen ein ausgeprägter Hang zu Hypochondrie nachgesagt wird.
Das heisst, Optimismus ist vor allem dann gut, wenn man keinen oder nur einen kleinen Entscheidungsspielraum hat, zum Beispiel als Nonne in einem Kloster oder als Soldat an der Front. Wenn man aber wichtige Entscheidungen fällen muss oder Weichen stellen kann, trägt ein guter Realitätsbezug mehr zur Resilienz bei als ein überschwänglicher Optimismus.
Tipp: Erinnern Sie sich am Abend an drei positive Dinge, die Sie am Tag erlebt haben. Tauchen Sie noch einmal ein in die für Sie wertvollen Augenblicke und beschreiben Sie die Gefühle, Sinneseindrücke und Gedanken, die sie bei Ihnen ausgelöst haben.
4) Die richtige Anspannung
Der Körper hat zwei vegetative Nervensysteme. Der Sympathikus, auch Stressnerv genannt, spannt den Körper an und bereitet ihn auf Kampf und Flucht vor. Der Parasympathikus, der zu einem grossen Teil aus dem Vagus-Nerv besteht, entspannt, fördert die Verdauung und die Regeneration der Gewebe.
Vor einer Prüfung oder einem Bewerbungsgespräch, bei sportlicher Höchstleistung und bei einer beruflichen Neuorientierung braucht es Anspannung, um den Stress auszuhalten. Es ist nicht ratsam, solchen Stress zu vermeiden und zu versuchen, immer entspannt zu sein. Die Fähigkeit zu Anspannung ist zentral für die Resilienz. Daueranspannung untergräbt jedoch die Resilienz und macht anfällig für psychische und körperliche Krankheiten. Um das zu verhindern, brauchen wir „Ent-Spannung“: Zeit für uns, Zeit zum Abschalten.
Die beiden Nervensysteme sind hierarchisch organisiert. Anspannung hat biologisch den Vortritt gegenüber der Entspannung. Obwohl kein Zweifel besteht, dass Ernährung und Entspannung für die Resilienz und das langfristige Wohlbefinden entscheidend sind, ist es für den Sympathikus ein Leichtes, eine Krise oder einen Notzustand auszurufen, um das Blut vom Darm an die Muskeln und die Schweissdrüsen umzuverteilen. Ein Smartphone-Alert genügt, um dem Stress-System Vortritt gegenüber dem Vagus-Nerv zu gewähren. Viele moderne Organisationsformen wie Grossraumbüros, ein fremdbestimmter Terminkalender und Dauererreichbarkeit haben den Effekt, dass das Stress-System anhaltend aktiviert ist.
Aus all diesen Gründen müssen wir uns vor zu vielen Alarmen schützen und Erholungszeiten aktiv und bewusst organisieren. Oft merken wir gar nicht, dass unsere Entspannungszeiten kürzer und seltener werden. Deshalb hilft der Eintrag fixer Entspannungszeiten im Kalender, unsere Resilienz zu stärken. Davon profitieren auch die Firmen. Entspannte Mitarbeitende sind kreativer als angespannte.
Tipp: Versuchen Sie, sich den Tag als Yoga-Übung vorzustellen. Sie wechseln von einer Stellung zur anderen. Und jede Stellung enthält eine kräftige und beherzte Anspannung, gefolgt von Entspannung.
5) Die richtige Belohnung
Belohnungen bieten einen wichtigen Schutz vor Stressfolgeschäden. Wer den ganzen Tag an der Kasse arbeiten muss, von Kollegen und Kunden kritisiert wird und kaum dabei etwas verdient, hat ein grösseres Risiko, depressiv zu werden als ein Manager, der viel verdient und die Aussicht hat, auf der Karriereleiter aufzusteigen. Die sogenannte Manager-Krankheit ist ein Mythos. In Realität sind Manager im Durchschnitt deutlich weniger depressiv und leiden weniger an Herzkrankheiten als ihre Untergebenen.
Neurobiologisch muss man es sich so vorstellen: Mitten im Gehirn liegt das Hirnbelohnungssystem. Es ist der grosse Gegenspieler des Stresssystems, das heisst, die richtige Belohnung hat das Potential, das Stress-System zu dämpfen. Man denke nur an die Situation, in der ein Vater versucht, seine Tochter aus einem Gletscherspalt zu retten. Seine enorme Energie und Unermüdlichkeit beruht auf der grossen Belohnung, die in Aussicht steht, nämlich seine Tochter zu retten und mit ihr noch viele Jahre verbringen zu können.
Aus all diesen Gründen ist es wichtig, Belastungen mit Belohnungen zu kombinieren. Bei der Wahl der Belohnung gibt es zwei wichtige Kriterien. Kurzfristig versus langfristig: Eine typische Belohnung nach einem harten Tag in der Schule oder bei der Arbeit ist das Bier am Abend. Das hat den Vorteil, dass es immer zur Verfügung steht und dass man es sich unabhängig von der Belastung immer gönnen kann. Abhängigkeit und Bierbauch sind die Nachteile. Menschen, die einseitig auf kurzfristige Belohnungen setzen, habe eine geringe Resilienz. Solche Belohnungen haben auch ein Suchtpotential. Schulabschlüsse, berufliche Meilensteine, Visionen, Freundschaften und Paarbeziehungen gehören zu den langfristigen Belohnungen, welche die Resilienz stärken.
Materiell versus intrinsisch: Studien zeigen, dass wir uns zunehmend auf materielle Belohnungen konzentrieren, zum Beispiel sportliche Autos oder elegante Taschen. Dies auf Kosten von sogenannten intrinsischen Belohnungen wie persönliche Erfüllung, innere Unabhängigkeit und moralisch hochstehende Leistungen. Dieser Wandel schwächt nachweislich die Resilienz. Es lohnt sich deshalb, intrinsische belohnende Dinge zu tun.
Tipp: Fragen Sie sich bei jeder Belastung, was die entsprechende Belohnung ist. Wählen Sie Herausforderungen, die langfristig und nicht ausschliesslich materiell belohnend sind.
6) Die richtige Zeit
Spirituelle Führer predigen es seit Jahrtausenden: in einzelnen Augenblick gibt es keine Probleme. Stress entsteht erst durch den Blick in die Vergangenheit und in die Zukunft. Moderne Forschung bestätigt diese Beobachtung. Wir sind zu 40-50 Prozent gedanklich abwesend. Je gestresster ein Mensch sich fühlt, desto abwesender ist er. Besonders abwesend sind Menschen im Pendelverkehr. Diese sind auch besonders frustriert. Im Gespräch mit Freunden, beim Spielen, beim Sport und beim Sex erreichen wir die höchste Gegenwärtigkeit. Es erstaunt deshalb nicht, dass diese Tätigkeiten das meiste Glück und die höchste Zufriedenheit vermitteln.
Folgende Fragen helfen, die Fähigkeit, in der Gegenwart zu leben, zu prüfen:Macht es mir Mühe, mich auf Routinearbeiten zu konzentrieren?
Stelle ich beim Lesen oft fest, dass ich nicht mehr weiss, was ich gelesen habe?
Denke ich in Vorführungen, Vorträgen und Filmen oft über etwas Anderes nach?
Multitasking, E-Mail-Alerts und Mobiltelefone stören nicht nur die aktuelle Gegenwärtigkeit, sie senken auch langfristig die Fähigkeit, sich auf etwas konzentrieren zu können. Auch die Dauerberieselung mit Werbung, die uns auf Genussoptionen aufmerksam machen soll, stört die Geborgenheit in der Gegenwart.
Den Zustand, in dem wir ganz im Augenblick aufgelöst sind, nennt man Flow. Selbst in Konzentrationslagern gelang es einzelnen Gefangenen, mit Flow psychisch widerstandsfähig zu bleiben. Das gelang Mathematikern und Poeten besonders gut, die dank der Beschäftigung mit mathematischen Aufgaben und Gedichten die Todesgefahr vergassen. Es gibt keine allgemeinen Regeln, wie man in den Flow kommt. Situationen, in welchen es gewisse Regeln gibt, zum Beispiel beim Tanz und beim Spiel, fördern den Flow. Ferner sollten die Anforderungen fein auf die Leistungsfähigkeit abgestimmt sein. Über- und Unterforderung stören den Flow.
Für die Bewältigung des stressigen Alltags ist der Mikroflow wichtig. Dieser ist überall, in der Schule, bei der Arbeit und im hektischen Haushalt möglich. Das heisst, auch ein Gespräch mit einem Kunden oder das tägliche Kochen können im Flow geschehen, das heisst ganz gegenwärtig erlebt werden. Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie hilft, die Gegenwärtigkeit und den Flow im Alltag zu verbessern und damit die Resilienz zu stärken.
Tipp: Fragen Sie sich, wo Sie zeitlich jetzt gerade sind. Versuchen Sie, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Setzen Sie Computer und Smartphones so ein, dass sie Ihren Flow nicht stören.
7) Die richtige Identität
Der Begriff Identität meint ursprünglich die Eigenschaften eines Gegenstands, die ihn von anderen unterscheiden. Im ähnlichen Sinn wurde er auf Menschen angewendet, wobei meistens psychologische und soziale Merkmale gemeint sind. Das führt zu vielen Missverständnissen. Nicht einmal Gegenstände sind immer gleich. Sie ändern sich und behalten trotzdem ihre Identität. Ferner ist die Identität eines Menschen nicht einfach von aussen gegeben, sondern das Resultat von psychosozialen Prozessen wie Selbsterkenntnis, Selbstgestaltung, Identifizierung und sozialer Integration. Arbeit und Beruf, Nationen, Familie, Religionen, soziale Rollen und sexuelle Vorlieben sind aktuell wichtige Bereiche der Identifikation. Weltanschauungen und Ideologien haben an Kraft verloren, Identitäten zu stiften. Wichtig ist die Erkenntnis, dass wir recht viel Freiraum haben, unsere Identität zu gestalten.
Identität hilft, sich selber und seine Interaktionen mit der Umwelt zu verstehen. Sie hilft auch, Erfahrungen Bedeutung zu geben. Das alles trägt wesentlich zur Selbst-Kontrolle bei. Menschen, die ihre Emotionen im Griff haben, sind resilienter als solche, die von ihren Gefühlen überschwemmt werden. Man sollte sich fragen: hilft mir meine Identität, mich und meine Erfahrungen zu verstehen?
Identität hat eine wichtige soziale Funktion. Wenn man sich ausschliesslich mit seiner Einzigartigkeit identifiziert, mag das die Kreativität fördern, nicht aber die soziale Integration. Ferner betrachten wir die Leistungen von Menschen, die mit unserer Identität zu tun haben, als positiv und eher nicht als Konkurrenz. In diesem Sinn haben Gruppenidentitäten das Potential, Konkurrenz in Kooperation zu verwandeln. Man sollte sich fragen: hilft mir meine Identität, produktive und stützende soziale Beziehungen zu gestalten?
Die Identifikation mit negativen Elementen hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Wir definieren uns zunehmend als Opfer von Stress, Diskriminierung und ungerechter Behandlung. Solche Identitäten spielen in der Politik eine immer grössere Rolle. Für die persönliche Resilienz ist es wichtig, sich auch mit positiven Dingen zu identifizieren. Die Identifikation mit Visionen und Langzeitperspektiven machen besonders resilient. «I have a dream» predigte Martin Luther King, und schon Nietzsche wusste: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“
Tipp: Fragen Sie sich: Was will ich wirklich? Welcher Gruppe fühle ich mich zugehörig? Was ist mein Traum? Welche Art Mensch will ich sein, wenn ich diese Welt einst verlasse? Was ist der Grund zu dessen Erkundung ich geboren wurde?
8) Das richtige Selbst
Alle populären Resilienz-Ratgeber sind sich darin einig: das Selbst ist der Angelpunkt der Resilienz. Diese Einstimmigkeit ist recht erstaunlich. Vor ein paar Generationen war ein grosser Selbstbezug moralisch negativ und niemand hätte gedacht, dass die intensive Beschäftigung mit dem Selbst zu Resilienz führt. Die Zeiten haben sich geändert. Mit dem Untergang der Religionen und dem Aufkommen der Leistungsgesellschaft ist das Selbst zunehmend ins Zentrum unseres Erlebens gerückt. Aus dem Selbst schöpft der moderne Mensch Sinn und Wert. Deshalb ist es so wichtig geworden, das Selbst zu trainieren.
Die wirksamste Methode der Selbst-Fitness sind Selbst-Wirksamkeitserfahrungen. Damit sind Erfahrungen gemeint, bei welchen man aufgrund eigener Aktivität und Kompetenz eine positive Veränderung der Umwelt bewirkt, selbst in schwierigen Situationen. Um solche Erfahrungen zu machen, ist es wichtig, aktiv zu sein, sich schwierigen Situationen zu stellen, aber auch Misserfolge in Serie zu vermeiden. Jugendliche, die schon früh Gelegenheitsjobs haben, sind deshalb resilienter als solche, die nur die Schulbank drücken. Selbst-Wirksamkeitserfahrungen führen zu hohen Selbst-Wirksamkeitserwartungen. Diese helfen uns, in schwierigen Situationen an unsere Fähigkeiten zu glauben und nicht aufzugeben.
Neben eigenen Erfolgserlebnissen können auch stellvertretende Selbst-Wirksamkeitserfahrungen zur Resilienz beitragen. Wenn es einem anderen gelingt, sich gegen einen bissigen Hund zu wehren, steigt die eigene Erwartung, dies selber auch zu können. Je ähnlicher die beobachtete Person mit uns ist, desto wirksamer ist die Beobachtung. Es ist deshalb wichtig, selbstwirksame Vorbilder auszuwählen.
Ein anderes wichtiges Konzept ist die Selbst-Verantwortung. In einer Krise ist es wichtig, sich um sich selbst zu sorgen, seine Leistungsgrenzen zu kennen und aktiv die Opferrolle zu verlassen.
Das Konzept des Selbst ist eng an die Arbeitsethik geknüpft. Ein allzu grosser Selbstbezug kann zu Leistungsstress führen, was die Resilienz unterhöhlt. Im richtigen Moment Kontrolle und Verantwortung abzugeben, kann gelegentlich das Beste sein, was wir für unsere Resilienz tun können. Buddhisten wissen das seit Jahrtausenden und üben mittels Meditation, durch Selbst-Überwindung Stress abzubauen.
Tipp: Suchen Sie Herausforderungen, bei denen Sie sich als einflussreich und kompetent erleben. Wählen Sie Vorbilder, die sich unter Stress und Belastung bewähren.
9) Die richtige Körperpflege
Körperliche Aktivität steigert die Resilienz. Neue Studien zeigen, dass bereits 15 Minuten Jogging oder ein kurzes Krafttraining antidepressiv wirken. Es ist also nicht nötig, Spitzensportler zu werden. Tägliche ein halbstündiger Spaziergang, eine Kraftübung oder ein kurzes Jogging genügen, die Resilienz zu stärken. Aktivitäten im Freien sind wirksamer als solche zuhause, vermutlich, weil die Lichtmenge draussen viel grösser ist als drinnen.
Der englische Ausdruck „to have guts“ bedeutet, Mut zu haben. Neuste Forschung belegt, dass man diesen Ausdruck wörtlich verstehen darf. Es mehren sich die Befunde, dass der Darm ein enger Verbündeter des Gehirns ist, wenn es darum geht, Stress abzuwehren.
Die Darm-Hirn-Connection ist zur wichtigsten Wachstumszone der Stressforschung geworden, aus der laufend neue, erstaunliche Ergebnisse kommen. Der Darm hat nicht nur den grössten und direktesten Kontakt mit der Aussenwelt, er besitzt auch ein eigenes Nervensystem. Darmbakterien scheinen einen wichtigen Einfluss auf unsere Psyche zu haben. Wenn Forscher Darmbakterien einer mutigen Maus in den Darm einer ängstliche Maus implantieren, wird diese deutlich stressresistenter. Solche Experimente legen nahe, dass man durch die Beeinflussung der Darmbakterien die Resilienz massgeblich stärken kann.
Die Zunahme des gefühlten Stress hat auch mit Veränderungen der Darmflora zu tun. Untersuchungen an Urvölkern zeigen: im Verlauf der Industrialisierung hat unsere Darmflora an Vielfalt abgenommen. Resilienz zeichnet sich aber durch grosse Vielfalt aus, auch im Darm.
Die Forschung zeigt, dass die Ernährung einen direkten und grossen Einfluss auf die Darmbakterien hat. Industrielle Fette und Zucker lassen schlechte Bakterien den Darm überwuchern. Durch eine ausgewogene, nicht-industrielle Ernährung nehmen dagegen die guten Bakterien wie Bifidobakterien und Lactobacillus zu. Insbesondere haben Früchte, Gemüse, Nüsse und Olivenöl das Potential, die Resilienz zu stärken.
Tipp: Seien Sie jeden Tag mindestens 30 Minuten körperlich aktiv, vermeiden Sie industriellen Fastfood und ernähren Sie sich ausgewogen mit natürlichen Produkten.
Zusammenfassung
Resilienz ist die richtige Balance auf verschiedenen Dimensionen. Positive Gefühle sowie der Umgang mit Spannung und Widerspruch sind das Fundament der Resilienz, nicht aber ein naiver Optimismus. Durch soziale Medien werden lokale Beziehungen durch digitale und globale ersetzt. Ferner nehmen die kooperativen Beziehungen ab und die kompetitiven zu. Für beide Veränderungen ist unser Gehirn nicht gemacht. Deshalb müssen wir aktiv Gegensteuer leisten, in lokale Bezüge investieren und Kooperationen aktiv gestalten. Innere Unabhängigkeit, die Fokussierung auf den Augenblick, positive Identifikationen und körperliche Fitness sind zusätzliche Faktoren, die unsere Widerstandsfähigkeit nachhaltig stärken.